Kapitel 1 – Rot, die Nacht – Teil 2

Teilweise handelte es sich um sehr junge Leute, die einfach nur durch die Büros liefen oder konzentriert an ihren Laptops arbeiteten. Auch saßen vereinzelt Menschen auf dem Boden und arbeiteten von dort aus. Es schien so, als würde es hier niemanden geben, der nicht mit einem Laptop unterwegs war oder nicht gerade an einem arbeitete. Überall summte es wie in einem Bienenstock. Nur ein Büro stach aus dieser Atmosphäre vollkommen heraus. Eine leise Musik erklang durch die geöffnete Tür auf den Flur und als Sœlve einen Blick in den Raum warf, sah sie, dass die Leute im Raum wie in Trance tanzten. Später, bevor sie ihren Bus zum Flughafen bekommen musste, würde sie noch einmal versuchen einen etwas längeren Blick darauf zu erhaschen.
Endlich kamen sie beim Aufzug an und als ihre Kollegin den Knopf zum Öffnen drückte, war Sœlve überrascht wie riesengroß dieser war. Sie nahm an, dass bestimmt auch ein Auto locker hineingepasst hätte.
„Und? Möchtest du einmal mit unserem Speedy fahren?“, frage ihre Kollegin mit einem noch breiteren Grinsen als zuvor.
Sœlve verneinte dankend, nachdem sie ihr erzählt hatte, dass der Aufzug so langsam wäre, dass man in derselben Zeit die Treppe mehrfach rauf und wieder runter laufen konnte. Zumal der Umweg durch das Haus im Normalfalle die Fahrt dann auch noch sinnloser machen würde.
Gemütlich schlenderten sie den Gang zurück zu ihrem Büro. Wie sie es schon erwartet hatten, war natürlich noch niemand außer ihnen da. Da es Sœlves letzter Tag war, entschieden sie sich, nachdem ihr Bauch einmal laut geknurrt hatte, spontan zu einem letzten gemeinsamen Frühstück. Schon die letzten Tage hatten sie sich die Zeit genommen, um vor der Arbeit noch in Ruhe zu reden. Bereits am ersten Tag hatten sie einen kleinen Supermarkt direkt neben dem Arbeitsgebäude geplündert. Allerdings gab es auch Dinge, die sie niemals freiwillig angerührt hätte. Aus einer Abteilung war sie rückwärts wieder rausgerannt, da sie die Sachen darin vollkommen angeekelt hatten und ihr der Geruch sofort auf den Magen geschlagen war. Nun… wie war das doch so schön mit anderen Ländern und anderen Sitten?
Trotzdem fand sie noch lauter leckere Sachen, die es bei Sœlve zu Hause nicht gab. Vorsichtshalber hatte sie sogar von einem Getränk mehrere Dosen extra eingekauft, um auch nach dem Praktikum noch einmal in den Genuss kommen zu können. Außerdem würde sich Lilly bestimmt darüber freuen. Vielleicht war die Postkarte, die sie ihr gleich am ersten Tag geschickt hatte, auch schon bei ihr angekommen.
Nun hieß es aber erstmal gemütlich essen und auf die Kollegen warten. Es dauerte noch eine ganze Weile bis diese dann endlich eintrafen.
Der Vormittag verlief wie im Fluge und die Zeit rannte nur so davon. Kurz vor dem gemeinsamen Mittagessen erinnerte sich Sœlve wieder an diesen merkwürdigen Raum, den sie sich noch einmal anschauen wollte. Kurzentschlossen sagte sie, dass sie kurz zur Toilette müsse, die rein zufällig im Flur in der Nähe des Raumes lag. Schon am ersten Tag hatte sie sich gewundert, dass es offensichtlich nur einen Toilettenraum für alle Firmen gab, die dort auf dem Stockwerk arbeiteten.
Wenige Augenblicke später hatte sie den Raum, dessen Tür nun leider geschlossen war, erreicht. Sie schaute sich einmal um und lauschte dann mit einem Ohr an der Tür. Im Raum herrschte nun vollkommene Stille und von der Musik war nichts mehr zu hören. Vorsichtig versuchte sie die Klinke zu drücken um einen kurzen Blick hinein werfen zu können… leider blieb ihr dieser Blick verwehrt, da die Tür verschlossen war.
Mit einer leichten Enttäuschung im Bauch ging sie zurück zu ihrem Büro. Ihre Neugier war jetzt noch schlimmer als zuvor. Bis kurz bevor sie sich zum Flughafen aufmachen musste, passierte nichts Außergewöhnliches mehr.
Auf einmal betrat ein Kollege, den sie erst ein einziges Mal zuvor gesehen hatte, ihr Arbeitszimmer und schaute sie mit einem komischen Ausdruck in seinen Augen an.
„Ich hoffe, dass es dir hier gefallen hat und du nachher einen schönen Heimflug haben wirst“, sagte er mit belegter Stimme, „ich bin gerade gefeuert worden, wollte mich aber noch von dir verabschieden.“
Sprachlos starrte sie ihn an und wusste nicht so wirklich, was sie sagen sollte oder gar konnte.
„Aber warum das denn?“, fragte sie schließlich und fand sich in einer Umarmung wieder.
„Das ist nicht weiter wichtig. Wichtig ist, dass du heute gut nach Hause kommst“, flüsterte er ihr leise ins Ohr.
Ohne eine weitere Reaktion abzuwarten drehte er sich um und ließ sie alleine und verdutzt zurück.
Sœlve war noch vollkommen in ihre Gedanken verloren als ihre Lieblingskollegin in der Tür stand und meinte, dass es langsam an der Zeit wäre zum Bus zu gehen. Dann lächelte sie und meinte, dass sie sie auch gerne fahren würde, damit es nicht zu stressig wäre.
Nachdem Sœlve sich mit einer Umarmung von allen verabschiedet hatte, saß sie auch schon im Wagen. Am Platz, wo der Bus losfahren würde, redeten sie noch ein wenig miteinander über alles Mögliche bis ihre Kollegin wieder zurück musste. Nach einer langen Umarmung verabschiedeten sie sich und Sœlve war nun wieder allein. Um nicht blöd in der Gegend herumzustehen setzte sie sich in einem kleinen Wartehäuschen auf eine Bank, holte ihre Kopfhörer heraus, und hörte ihre Lieblingsband.
Nur wenig später setzte sich ein Jugendlicher neben sie, der sich irgendetwas anzündete. Aus dem Augenwinkel sah sie immer wieder kleine Flammen auflodern, die auch einige Sekunden lang brannten. Nachdem dies einige Male passiert war schaute sie unauffällig zu der Person neben sich und mochte ihren Augen nicht glauben: der Junge zündete sich Streichhölzer an; allerdings nicht so, wie man es erwarten würde. Er nahm jedes Mal ein bis zwei sehr lange Streichhölzer in seinen Mund und ließ dann mit der Bewegung des Kopfes die Streichhölzer an der Reibfläche der Packung vorbeischrammen, bis diese anfingen zu brennen. Und dann behielt er diese im Mund, bis sie von alleine ausgingen.
Fasziniert beobachtete Sœlve dieses Schauspiel bis ihr Bus kam und sie endlich ihre Koffer in der Gepäckfläche verstauen konnte. Als sie dann im Bus saß, schaute sie noch einmal hinaus um einen letzten Blick auf den Jungen zu erhaschen, aber er war wie vom Erdboden verschluckt.
Der Bus fuhr los und der kleine Ort, an dem sie nun für einige Wochen ihr Praktikum verbracht hatte, verschwand schnell hinter einer Kurve, die in ein Gebirge führte.
Es schien gerade Schulschluss gewesen zu sein, da der Bus voller Kinder war. Selten zuvor war sie so froh über ihre Kopfhörer, da sie ihre Musik so laut aufdrehen konnte, dass sie das Geschrei der Schüler nicht hören musste.
Dennoch war sie neugierig und blickte sich im Bus unauffällig um um zu sehen, wer noch im Bus war. Bis auf auf zwei Männer waren außer ihr tatsächlich nur Kinder auf den Bänken. Sie hatte Glück dass sie am Fenster sitzen konnte und neben ihr der Platz am Gang frei geblieben war. Die Musik tat ihr gut, als sie verträumt die vorbeiziehende Landschaft beobachtete. Auf der Hinfahrt war sie erst sehr spät angekommen und musste, zu ihrem Leidwesen, über eine Stunde in der Kälte und im Nebel auf den Bus warten, da ihr ein falscher Busfahrplan zugeschickt worden war. Von der Fahrt zum Ort hatte sie auch kaum was mitbekommen, da ihr immer wieder die Augen zugefallen waren. Daher genoss sie es jetzt um so mehr alles anschauen zu können.